Locked Room-Szenario in der Eiswüste

 Der Finnland-Krimi "Die Kälte der Wahrheit" von Leena Lehtolainen lässt mich mich zwiespältigen Gefühlen zurück. Einerseits gefällt mir die Beschreibung der Landschaft im hohen Norden Finnlands, die Tatsache, dass in der großen Weite gleichwohl ein Plot wartet, der an ein Locked Room-Szenario erinnert. Ein Plot, der zudem spannend ist und für einige Wendungen und Überraschungen sorgt, dabei den Spannungsbogen gekonnt hält. Die Beschreibung eines kleinen aber ultrafeinen Luxushotels mit innovativer Architektur und großer Geheimhaltung liefert ein reizvolles Szenario, und obendrein gibt es Verstrickungen zu russischen Kreisen, wo Legales und Illegales gleitend ineinander übergehen.

So weit das Positive. Allerdings hat die Autorin mit der Figur der Leibwächterin Hilja wirklich übertrieben. Ich habe es ja schon wiederholt in anderen Postings geschrieben: Ich kann mich einfach nicht dafür erwärmen, wenn die Hauptfigur die Mutter (oder der Vater) aller Schmerzen ist, vom Schicksal ungemein gebeutelt, aber dennoch gestählt aus allen Qualen siegreich hervorgehend, bei denen die meisten Menschen körperlich, seelisch und mental schon längst zusammengebrochen wären. Das ist für mich nicht spannend, sondern over the top, macht die Figur für mich weder reizvoll noch glaubwürdig, sondern erinnert eher an eine scherenschnittartige Karrikatur a la Rambo. 

Und genau das ist mein Problem mit Leibwächterin Hillja. Nicht genug, dass die tragische Lebensgeschichte eine von früher Jugend an von Gewalt geprägte Biografie ist - der Vater bringt erst die Mutter um, Jahre später Hilljas Onkel, der sie aufzieht und auch sonst  kreuzen Gewalttätigkeiten ihren Weg. Dass mit der Überidentifizierung Hilljas mit Luchsen (und/oder Katzen) dann noch ein metaphysisches Element dazukommt, bei dem ich nicht weiß, ob es new Age oder Schamanentum verkörpert soll, macht Hillja noch weniger glaubwürdig. Ich vermute, all das soll ihr Ecken und Kanten geben, einen spannenden Charakter, aber das wirkt alles so überzogen, dass es mich einfach nicht überzeugen kann. Ist das jetzt ein ironischer Tribut an Superheld*innen? Ich möchte es gerne glauben, aber ich finde solche plakativen, holzschnittartigen und lebensfernen Charaktere einfach  nur ärgerlich. 

Dabei ist der Plot eines verschwundenen Bauunternehmers, einer um ihr Leben fürchtenden Hotelchefin, der Fund einer Leiche, in der Hilja irritiert ihren One Night Stand des letzten Wochenendes erkennt nicht ohne Reiz. Mit einer Protagonistin, die mich auch überzeugt hätte, hätte mir dieses Buch viel besser gefallen.


Leena Lehtolainen, Die Kälte der Wahrheit

Rowohlt, 2022

384 Seiten, 13 Euro

978-3-499-00996-9

   

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